Ausstellungseröffnung, Fellbach, 5. Juli 2018:
HANNELORE FEHSE – Intonationen der Stille. Albhäuser zwischen Konkretion und Abstraktion
Was ist zu sehen? Was ist zu sagen? Was zeigen die Bilder, die Gemälde von Hannelore Fehse? Lapidare, scheinbar simple Fragen. Es sind Fragen, die immer am Anfang stehen. Doch schon die möglichen Antworten auf die erste dürften vielfältig ausfallen. Eine von ihnen könnte lauten: Die Künstlerin Hannelore Fehse malt polygonale farbige Flächen, zuweilen mit starken Farbkontrasten, manchmal mit schwächeren, einer farblichen Homogenität sich annähernden. Die Formen sind „reduziert“, um damit ein Lieblingswort und einen Lieblingsbegriff aller heute über Kunst Sprechenden und Schreibenden heranzuziehen. Mathematisch beschränken sie sich auf die Geometrie der Ebene.
Es sind Bilder ohne Menschen, ohne Tiere, Pflanzen, Bilder bar jeden Hinweises auf Bewegung. Nicht einmal Nature Morte, „die tote Natur“, wie Stillleben im Französischen heißen, keine Arrangement von gefangenen Karpfen, von Wildbret, keine überbordenden Berge von Früchten und Gemüse, von Blumen. Eine seltsam eigentümliche Leere füllt die Bildräume. Surreal die Stimmung.
Doch da ist der Einwurf von Dr. Karen Bork, Mitarbeiterin der Kunststiftung Baden-Württemberg. In ihrem Essay „Eine Reise in die Tiefe der Malerei“ über Hannelore Fehse schreibt sie über den Bildkosmos von Hannelore Fehse: Es sei „keine leblose Welt, auch wenn Menschen“ fehlten „und die Augen der Häuser, die Fenster, nur zu erahnen“ seien.
Alle Gemälde stehen unter dem Titel „Albhäuser“. Ermöglichte, stellt sich hier die Frage, die im Fellbacher Rathaus gezeigte Bildfolge von Albhäusern, Anliegern der Ufer des Steinhuder Meers oder des Massif Central in Frankreich, erhielten Personen, die noch nie von der „Schwäbischen Alb“ gehört, geschweige denn sie besucht hätte, gewännen diese eine Vorstellung, gar einen Begriff von den architektonischen Eigentümlichkeiten der Bauweisen dieses süddeutschen Mittelgebirges? Fragezeichen! Konnten, bohren wir weiter, im Jahre 2012 bei der Ausstellung solcher Bilder in der Landesvertretung von Baden-Württemberg in Brüssel bei der Europäischen Union Besuchern aus Flandern, der Bretagne oder dem spanischen Galizien Eindrücke vermittelt werden von der Lebensform, der Art des Bauens, Wohnens und Wirtschaftens in einer Region des Schwabenlandes? Wären, focusieren wir ein weiteres Mal, die hier in Fellbach, im Remstal, einem Tal der Schwäbischen Alb präsentierten Gemälde mögliche Objekte für das Heimat-Ministerium des Herrn Innenministers Horst Seehofer? Welche Erkenntnisse und Aufschlüsse böten die Beispiele dieser Ausstellung Angela Merkel? Sagt doch Hannelore Fehse selbst in der Künstlern eigenen Bescheidenheit und unter Zurücknahme des Eigentlichen und Wesentlich: „Künstlerisch setze ich mich mit der traditionellen Architektur der Schwäbischen Alb auseinander. Die auf den ersten Blick wenig ansprechenden Orte üben auf mich eine große Faszination aus.“
Wären die Bilder damit eigentlich nicht eher eine Angelegenheit des Schwäbischen Heimatbundes als der ambitioniert auf Gegenwartskunst ausgerichteten Galerie der Stadt Fellbach, die zeitgleich zu dieser Ausstellung fotografische Arbeiten des Amerikaners Frank Paul Kistner zeigt: Fotos von Meereshorizonten, Imaginationen des Grenzenlosen, der Verschmelzung von Himmel und Erde. Wird hier vom Kurator der Fellbacher Ausstellungen bewusst der Kontrast gesucht und geboten von Weite und Enge, von Universalem und bodenständig Biederem, von Natur und Kultur.
Hannelore Fehse, so im Jahre 2015 Dr. Veronika Mertens, Direktorin der renommierten Städtischen Kunstsammlung Albstadt, nehme „mit ihrem persönlichen Blick auf die Landschaft der Schwäbischen Alb das Wesen einer über Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft wahr.“
Erleben wir hier, um einen weiteren Konnex zur Werkfolge „Albhäuser“ von Hannelore Fehse anzubieten, eine Fortführung, eine Variante des Sujets Landschaft der Schwäbischen Alb, wie es von dem Holzschneider HAP Grieshaber bahnbrechend aufgegriffen wurde und in dessen Nachfolge sich der Öschinger Meister des Hochdrucks Klaus Herzer (* 1932) oder Andreas Felger (* 1935) begriffen haben und stellten. Alles Künstler übrigens, denen die Alb Heimat war und ist.
Noch einmal: Was ist zu sehen? Was ist zu sagen? „Ich male, was ich sehe“, erhalten wir knappe Auskunft von der Künstlerin. Und wir, die Betrachterinnen und Betrachter, was sehen wir, wenn wir uns dem Sehen der Malerin, wie es sich in ihren Arbeiten manifestiert, annähern, besser: was erfahren, was empfinden wir?
Unser eigentliches Sehen, wenn wir diesen Vorgang in philosophischer Weise in seiner Spannbreite als Phänomen betrachten, geht geradezu „augenblicklich“ über Dreiecke, Parallelogramme, über Rechtecke und Quadrate hinaus, sieht darüber hinweg. Das Sehen des Menschen ist immer anderes und mehr als optisches Registrieren, als Rezeption und Transformation von Lichtquanten durch die Netzhaut des Auges. Dieses Sehen wandelt sich als solches unmittelbar in Erleben, in Empfinden.
„Empfinden“ ist ein aufschlussreiches Wort. Das Verb ist die abgeschliffene Form von „In-Finden“. Es steht für ein Finden im Innern, wenn der Mensch in seinem Innern berührt wird, dort etwas findet. Die Wörter „Empfinden“ und „Empfindung“ beziehen sich und offenbaren eine Wirklichkeit jenseits der physikalischen, äußeren Realität. Diese Wirklichkeit ist der eigentliche Wirkraum, der Welt-Raum allen künstlerischen Schaffens und aller Begegnung mit Musik, Malerei, Dichtung. In ihr erklingen Farben als Töne, lösen Melodien körperliche Resonanzen aus, verstehen wir die Sprache eines Balletts, die Bewegungen einer Tänzerin oder eines Tänzers.
In der Bildenden Kunst, in Malerei und Plastik, vermag Stummes zu sprechen, brechen Bilder und Bildwerke ihr anfängliches Schweigen, werden sie höchst beredt. Welche Türen von Tiefenräumen in unserem Innern vermögen sie zu erschließen, zu öffnen! Geradezu unmittelbar kommen wir im Sehen, in der Betrachtung der Bilder von Hannelore Fehse zur Wahrnehmung. „Wahrnehmung“, welch einzigartige Wort- und Begriffsbildung der deutschen Sprache! Das Wort erfasst, beschreibt wie beim Sehen und Betrachten eine andere Dimension sich öffnet, wie beim Wahrnehmen etwas über das Oberfläche hinaus etwas Tieferes, Gültigeres sich offenbart, ins Bewusstsein tritt. Es ist das Sein eines Dinges, ja sogar das Sein als Ganzes. Romano Guardini (1885-1968) spricht das Gemälde des kargen Zimmers mit Stuhl von Vincent van Gogh als Beispiel heranziehend in seinem Tübinger Vortrag „Über das Wesen des Kunstwerks“ von 1947 vom Kunstwerk als einer Schöpfung, in der sich immer „Das Ganze“ zeige, in dem „die Ganzheit des Daseins“ anklinge.
Lassen wir die Künstlerin noch einmal selbst zu Wort kommen: „Ich male, was ich sehe.“ Hannelore Fehse fügt ihr Schaffen reflektierend die Formulierung hinzu, es sei „Konzentration auf das Wesentliche menschlicher Existenz“.
Darum berühren die Bilder der „Albhäuser“ unmittelbar, weil in ihnen das Dasein des Menschen, seine endliche Existenz, sein vorübergehendes Verweilen und sich Einrichten, sein Suchen nach Schutz, nach Geborgenheit uns aufgeht, das Bauen und Wohnen des Menschen in der Welt sichtbar wird und in der Betrachtung uns aufgeht. „Albhäuser“ sind dabei nicht zuletzt Spiegel des kargen Landstrichs, der Unwirtlichkeit der Wirklichkeit, der der Mensch ausgesetzt ist. Gerade darum machen auf ihre Weise die „Albhäuser“ das „Da“ und damit die Grundgegebenheit des „Daseins“, um diesen Terminus Martin Heideggers (1889-1976) für den Menschen heranzuziehen, sichtbar.
Heidegger auch hat auf einer Darmstädter Tagung zum Thema „Mensch und Raum“ in seinem Vortrag mit dem Titel „Bauen, Wohnen, Denken“ auf den Zusammenhang von altdeutsch „buan“ für Bauen und dem Verb „sein“ hingewiesen, in dessen Abwandlungen „bin“, „bist“ noch die etymologische Herkunft von „buan“ erkennbar sind.
Bauernhöfe der Schwäbischen Alb wie die von Hannelore Fehse gemalten, nennen wir zuweilen „Anwesen“. Anwesen sind von Menschen geschaffene Einrichtungen, die seinem Aufenthalt eine Dauer geben, einen Bezugspunkt seines Sich-Ausbreitens, Arbeitens, Wirtschaftens, Pflanzens, Erntens.
Jede Dauer jedoch, mag sie noch so ausgedehnt sein, zeigt sich als begrenzt, ist von ihrer Zeitlichkeit her einem Schwinden und Verschwinden unterworfen. Jeder Dauer ist das Aufhören eingeboren. Die „Albhäuser“ von Hannelore Fehse, offenbart meditative Betrachtung und Wahrnehmung, sind Manifestationen von Endlichkeit, von Begrenztheit, Vergänglichkeit, der Zeitlichkeit des Daseins.
Doch in allen Variationen der Serie „Albhäuser“ tut sich ein Hintergrund auf, in dem das Unendliche eingefangen scheint, wo neben und hinter dem Endlichen das Unendliche und Unbegrenzte gegenwärtig wird. Damit sind in die Betrachtung eingehende Imaginationen von Totalität entstanden: des Endlichen und des Unendlichen, des Begrenzten und Unbegrenzten, Bilder des Ganzen der menschlichen Existenz.
Alles Begrenzte und Endliche steht vor der Umfassung des Unbegrenzten, kann nur vom Horizont des Unbegrenzten her verstanden werden. Anaximander (610-546) von Milet, gleich Thales von Milet (624/23-544/43), seinem Lehrer, eine Frühgestalt der großen Denkbewegungen des antiken Griechenlands sprach vom Unbegrenzten, dem „Apeiron“ als dem Urgrund alles Seienden, alles dessen, was ist. Ἀναξίμανδρος δ‘ ὁ Μιλήσιός φησι τῶν ὄντων τὴν ἀρχὴν εἶναι τὸ ἄπειρον. ἐκ γὰρ τούτου πάντα γίνεσθαι καὶ εἰς τοῦτο πάντα φθείρεσθαι. Übersetzt lautet dieser Satz des Anaximander: „Anaximander von Milet lehrte, der Urgrund des Seienden sei das Unbegrenzte, das Unendliche. Aus diesem habe alles sein Entstehen und in dieses hinein alles sein Vergehen.“
Die „Albhäuser“ sind Bilder des Endlichen vor dem Unendlichen, sind Bilder des Begrenzten als Schatten des Unbegrenzten. Es ist diese existentielle Dimension, die sich beim Sehen, beim Wahrnehmen des Dargestellten eröffnet. Erläutert sei dies mit einer weiteren Stimme, einer des neuzeitlichen Denkens, einer, der Friedrich Nietzsche (1844-1900) höchsten Respekt zollte. Blaise Pascal (1623-1662), der Mathematiker, Philosoph, Erfinder einer der ersten Rechenmaschinen, notierte in seinen „Pensées“, seiner Sammlung von Gedanken: „Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bisschen Raum , den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, dass ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich gerade hier und nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann. Wer hat mich hier eingesetzt? Durch wessen Anordnung und Verfügung ist mir dieser Ort und diese Stunde bestimmt worden? Memoria hospitis unius diei praetereuntis.“ Das lateinische Zitat ist dem „Buch der Weisheit“ in der Vulgata-Übersetzung der Heiligen Schrift entnommen: Zurückbleibt vom Menschen nur die Erinnerung an einen flüchtigen Gast.
Hannelore Fehses „Albhäuser“ umweht das Ganze des Seins. Es sind Bilder der Stille, Intonationen der Stille. In dieser Stille schwingt aber und klingt an, um ein weiteres Wort aus Romano Guardinis Gedanken zum Wesen des Kunstwerks anzuführen: „der Ton des Alls“. Im sehenden sich Einlassen auf Hannelore Fehses „Albhäuser“ ist dieser Ton zu vernehmen.
Prof. Wolfgang Urban