Vernissage Hannelore Fehse Schlichtblicke
Ev. Akademie Bad Boll, Sonntag, 23.9.2018

Einführung

Meine Damen und Herren,
Schlichtblicke – so ist diese Ausstellung mit Bildern von Hannelore Fehse überschrieben, die wir heute eröffnen und die in den kommenden knapp zwei Monaten in den Räumen der Akademie zu sehen sein wird. Für meinen Versuch einer Einführung in die Bildwelten Hannelore Fehses will ich mich an diesen Titel halten, gehe diesem Motto gleichsam entlang.
Als wir vor einigen Wochen nach einem Titel für diese Präsentation Ihrer Arbeiten suchten, haben Sie, Frau Fehse, sich unter einer Reihe von Vorschlägen für diese Wortprägung entschieden: Schlichtblicke. Es ist Ihnen offenbar passend für das, was Sie ins Bild setzen und uns zu sehen geben. Ich hoffe, mit der folgenden Interpretation komme ich dem ein wenig näher.
Schlicht ist zunächst das, was uns da vor Augen tritt, worauf diese Bilder unser Aufmerken lenken wollen. Bauten, Räume, Winkel, Fluchten, die unspektakulär und teilweise verlassen wirken, Gebilde, die ‚in Echt‘ existieren, aber meist unbeachtet bleiben, teils lange vernachlässigt wurden, manchmal schon gar nicht mehr stehen, sondern dem Neuen, dem Raschen, weichen mussten und also abgerissen wurden. Gebäude, die, soweit sie noch stehen, manchmal abgewohnt, leergelebt, stillgestellt sind – die aber doch und noch immer dastehen in einer beredten Stille. Und diese Stille beginnt nun in diesen Bildern zu uns zu sprechen, mit einer erstaunlichen Intensität, wenn man denn ein hörendes Auge, ein sehendes Ohr dafür hat.

Schlichtblicke werfen wir also hier auf Gebäudeformationen der Schwäbischen Alb, auf Häuser, Höfe, Ställe und Scheunen, auf Wände und Dächer, selten auch auf Türen und Fenster. Schlicht sind die Blicke, die uns hier eröffnet werden, aber nur auf den ersten, manchmal allzu rasch taxierenden, gleichgültigen oder gar abfälligen Blick. Nur Albhäuser gibt es hier zu sehen? Ja, aber wie!
Der Einladungskarte zu dieser Vernissage ist auf Anregung von Frau Fehse ein Zitat von Giorgio Morandi beigegeben: „Ich glaube, dass nichts abstrakter, unwirklicher sein kann als das, was wir tatsächlich sehen.“ Damit ist treffend wiedergegeben, was sich in den Bildern Hannelore Fehses mitteilt: Nämlich eine Aufhebung (durchaus in mehrerlei Bedeutung, also im ‚Hegelschen Sinn‘ des Wortes) konkreter, vorfindlicher Wirklichkeit in die Abstraktion von Farbe und Form. Hannelore Fehse malt Albhäuser. So kann man sagen und das trifft zu, aber es trifft nicht das Ganze. Hannelore Fehse malt Albhäuser. Und in diesem künstlerischen Prozess der Verarbeitung äußerer Eindrücke und Gegebenheiten vollzieht sich ein subtiles Spiel der Läuterung von Proportionen und der sorgfältig austarierten Konstellierung von Farbtönen und –flächen.
Dass sich diese Subtilität der künstlerischen Gestaltung gerade durch eine radikale Begrenzung der dargestellten Sujets, durch die Konzeption eines immer wieder neuen Angangs gleicher oder ähnlicher Gegenstände noch steigert, das verbindet die Arbeiten Hannelore Fehses mit dem Schaffen Morandis. Andere Bezugspunkte ihrer Kunst ließen sich nennen und werden auch von ihr selbst immer wieder benannt, Giotto etwa, oder Corot und Cezanne. Nur einen weiteren erwähne ich hier, weil sich uns in unserem Ateliergespräch vor Monaten rasch und wie von selbst diese Nähe ergeben hat. Die Nähe nämlich zu einem anderen Giorgio – Giorgio de Chirico und seinen surrealen Landschaften mit ihren traumartig verwaisten Raumfluchten, die von ihm so genannte ‚meta-physische Malerei‘.

Wenn ich von ‚einer Aufhebung vorfindlicher Wirklichkeit‘ ins Bild spreche, dann bedeutet das auch, dass diese Wirklichkeit zumindest in ihrer Struktur sich immer auch noch behauptet, und zwar besonders dort, wo sie der malerischen Gestaltung eine eigentümliche Spannung aufträgt. Mir ist das besonders deutlich in dem Bild, das hier in unserer Kapelle zu sehen ist:
In der dargestellte ‚Straße in Oberböhringen‘ dominiert die nahezu schwarze Form einer alten Scheune den rechten Vordergrund des Bildes. Dem kontrastiert nach hinten links und ansteigend eine Reihung strahlend heller Häuserfronten. Dieser Eindruck widerstrebt allen Seh- und Lesegewohnheiten. Auch ikonografisch widerspricht er der traditionellen Gesetzmäßigkeit, wonach die Hoffnungslinie von links unten nach rechts oben und vom Dunkel ins Licht hinaufführt. Die außergewöhnliche Wirkung, die das Gemälde erzielt, beruht wesentlich auf dieser Umkehrung. Sie rührt aber eben in diesem Fall von realen Gegebenheiten vor Ort her, von einer Spannung, die der Künstlerin in situ in die Augen sprang und dringlich auf Verarbeitung drängte.
Überhaupt sind Spannung und Störung wesentliche Merkmale und Wirkkräfte dieser Bilder, die allenfalls ein flüchtiger Blick, ein allzu schlichter Blick sozusagen, übersehen kann. Die kontrastive Aneinandersetzung von Farben und Formen ist als Grundprinzip dieser Kompositionen wohl offenkundig. Weniger rasch erkennbar, aber nicht minder wirksam aber sind Irritationen der Perspektive, ist das Spiel mit Vorder- und Hintergründen, da sind die unterschiedlichen Weisen der Pinselführung, des Farbauftrags, manchmal ruhig und gedeckt, dann wieder unruhig und regelrecht auflodernd; irritierend auch die Auflösung von Ecken und Kanten in reine Fläche, so dass das Auge, seiner Leitlinien beraubt, nach Anhalt sucht, wo keiner ist. Hier vor allem lohnt ein langer, ein wiederholter Blick, der den teils hart gesetzten, teils auch völlig aufgelösten Linien und Fluchten der einzelnen Bildelemente entlangstreift. Der sich an visuellen Kippfiguren erfreuen kann, und der auf diese Weise selbst das konstruktive Verfahren der Künstlerin nachvollzieht, sich das Bild also in der Betrachtung selbst zusammensetzt.
Hannelore Fehse beschreibt ihr künstlerisches Anliegen mit Worten wie ‚Klarheit, Nüchternheit, Angemessenheit und Konzentration auf das Wesentliche“ (vgl. Katalog ‚Albhäuser‘, 67). In solchen Anliegen macht sich sicherlich auch bemerkbar, dass sie Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hat. (Nebenbei bemerkt sind diese Begriffe auch zentrale Kategorien der Rhetorik!) Gerade in der dezidierten Konzentration auf das Wesentliche aber haben diese Bilder nicht nur etwas im besten Sinne Schlichtes, sondern auch etwas (im Sinne Morandis) ‚Un-Wirkliches‘, im Sinne de Chiricos etwas meta-physisches. Ja ich riskiere einen ebenso ästhetisch wie religiös konnotierten Begriff: Sie haben etwas Erhabenes. Sie teilen uns sich mit nur in einer eigentümlichen Mischung aus Vorstellung und Entrückung, Präsenz und Entzug.
Diese Gebäude, wie wir sie nun abgebildet finden, gewähren uns keinen Einblick. Sie laden ein zur Betrachtung, nicht aber zum Betreten. Selten sehen wir Fenster oder Türen. Und wenn, dann wirken sie wie blind. Oder sind wir gehalten, umzudenken? Ist es umgekehrt: Sind wir die Betrachteten?
In ihrer auf das Wesentliche konzentrierten Form, in ihrer präzisen Formation von Flächen und Farben – in all ihrer Reduktion sind sie trotzdem beredt. Sie bezeugen auch in der Abstraktion von konkret Vorhandenem, ja wahrscheinlich gerade so!, ein Leben in diesen Gegenden der Schwäbischen Alb, das auf Einfachheit, Klarheit, Zweckdienlichkeit ausgerichtet ist. Da ist keine überflüssige Zutat, kein Zierrat, da sind keine Schnörkel. Schlicht muss allerdings nicht heißen: arm. Obwohl die Geschichte gerade der Schwäbischen Alb weiß Gott vieles zum Thema Armut zu berichten wüsste. Wenn hier von Schlichtheit die Rede ist, dann ist damit vor allem jene Anmut und Würde gemeint, die in solchen meist bescheidenen Lebensverhältnissen ihre Fassung gefunden und bewahrt haben. Und so ist auch die Architektur dieser Landschaft, sind auch diese Gebäude auf der Alb Formationen eines Lebensstils der Bescheidung, der Konzentration auf Wesentliches, Unabdingbares. Die Arbeit von Hannelore Fehse verhält sich gleichsam mimetisch dazu.
Sind diese Bilder also doch Heimatbilder? Das kann man fragen, auf den ersten Blick. Vielleicht gerade in diesen Tagen, in denen allenthalben von Heimat die Rede ist. Wir sprachen kürzlich darüber, Sie, Frau Fehse und ich, sprachen von den gegenwärtigen Aufladungen dieses Begriffs, seiner Ästhetisierung in Heimatkult und Heimatgenuss, auch von seiner Politisierung, die meist auf Fixierung und Identifizierung, auf Festlegung eines ‚Hier und Wir‘ bei gleichzeitiger Abgrenzung von einem ‚Dort und Die‘ hinausläuft. Sind diese Bilder Heimatbilder? Man kann sich das fragen. Aber dann hätte man diese Bilder nicht befragt, oder besser: man würde sich durch sie nicht befragen lassen.
Ja, da scheint wohl etwas auf, und es ist wohl auch etwas aufbewahrt in diesen Bildern von einer Kindheit, die die Künstlerin auf dem Bauernhof verbracht hat, im Norden, in der Uckermark, wo Frau Fehse ihre ersten Lebensjahre verbracht hat. Ja, da schlägt sich natürlich auch etwas nieder von der späteren Beheimatung, die die Künstlerin dann hier im Süden der Republik, eben am Fuß der Schwäbischen Alb fand. Und schon gar nicht verleugnen diese Bilder die Faszination, die sich der Künstlerin immer wieder eingestellt hat und immer wieder noch einstellt bei ihren Fahrten und Gängen über die Orte der Alb. Das Erstaunen über die unbeirrt stille Präsenz, das eigentümlich stimmige Gefüge dieser Bauten, das von den allermeist hastig Vorüberziehenden unbeachtet bleibt und die generell vom Zug der Zeit übergangen oder existenzgefährdet ist. Diese Präsenz, die aber wiederum auch nicht einfach statisch ist, sondern die – davon weiß Hannelore Fehse mit einer sich mitteilenden Faszination zu erzählen – auch nach Jahren noch immer wieder auf neue Weise sich einstellt, je nach Tages- und Jahreszeit, je nach den Lichtverhältnissen, je nachdem auch, wie ihre örtliche und bauliche Umgebung sich ändert – und schließlich nicht zuletzt: je nach Gestimmtheit der Betrachtenden selbst.

Aber die äußeren Formationen dieser Gebäude, dieser Häuser und Höfe, dieser Schuppen und Scheunen sind dann doch ‚nur‘ Veranlassungen – nicht mehr und nicht weniger – die nach einer Gefasstheit in Form und Farbe rufen. Die zu Skizzen werden und zu Gemälden, die dann aber selbst wiederum oftmals mehrere Stadien der Überarbeitung erfahren, Bildfindungsprozesse durchlaufen, die manchmal Monate, manchmal Jahre dauern, wie etwa beim hier gezeigten Bild des Bauernmuseums in Ödenwaldstetten (Nr.5).
Wenn es also in diesen Bildern so etwas wie Beheimatung gibt, dann ist es dieser Moment des Betrachtens, in der sich die Ruhe einer gefundenen Form dem oder der Betrachtenden, uns also!, mitteilt. Dann ist es dieser Blick, in dem uns etwas zum Verweilen einlädt, an dem wir ansonsten achtlos vorübereilen. Dann ist es dieser Schlicht-Blick, mit dem ein Bild die Augen aufschlägt.
Für mich gehört es zu den Besonderheiten dieser Bilder von Hannelore Fehse, dass ich in diesem Augen-Blick des Bildes, in diesem Moment der Beheimatung, eine Sammlung und Verdichtung auch von Zeitlichkeit entdecke. Im Katalog einer früheren Ausstellung finde ich Frau Fehse als eine ‚malende Chronistin‘ charakterisiert (vgl. ‚Albhäuser‘, 13). Da heißt es weiter – und ich zitiere: „Was sie (Hannelore Fehse) ins Bild bannt, das ist dabei zu entschwinden, vielerorts hat es sich fast ganz zurückgezogen. Die Künstlerin rückt es noch einmal ins Bewusstsein. Sie schwankt dabei zwischen der Hoffnung, dass sich auch uns die Maßstäblichkeit dieser Gebäude und Dörfer als etwas Schönes und Erhaltenswertes mitteilt, und der Ahnung, dass es zu spät ist. Sie schwankt zwischen dem, was sie sehen kann, und dem, was sie sehen muss. Ihre Bilder enthalten Sehnsucht und Traurigkeit. Der Wandel wird fortschreiten, wir werden ihn nicht aufhalten. Aber bedauern dürfen wir ihn und ihn mit der Künstlerin einen Verlust nennen.“
Ein letztes Bewahren durch die Arbeit einer malenden Chronistin: Das wäre nicht wenig. Aber angesichts dieser Bilder, dieser Schlicht-Blicke, ist es dann letztlich doch zu wenig. Deswegen scheint mir wichtig, zu verstehen, was und wie hier etwas ins Bild bewahrt und in die Betrachtung gerettet ist.
Denn diese Bilder, diese Blicke enthalten nicht nur Reminiszenzen von Vergangenem oder Vergehendem. Was in ihnen Entzug ist, ist nicht oder nur am Rande der Reflex von etwas äußerlich Verschwindendem. Es ist vielmehr ein immanent notwendiger Bestandteil der Präsenz dieser Bilder selbst. Und genau dieses Moment eines bildimmanent notwendigen Entzugs enthält nicht nur den traurigen Blick zurück angesichts der allgegenwärtigen Furie des Verschwindens. Er hält auch ein Versprechen fest, dass nach vorn noch offen ist und etwas Uneingelöstes enthält.
So spricht die Einsamkeit, die uns fraglos aus diesen Bildern entgegensieht, von dem Leben, wie es war und ist und sein wird in seinem Ringen nach Fassung und Gemeinschaft. So sprechen diese immer neuen, immer wieder unterschiedlichen Bildfindungen, sprechen selbst verschlossenen Türen und blinden Fenster von der Möglichkeit einer Behausung, von Schutz und Einkehr. Deshalb braucht es in diesen Bildern auch gar keine ausgeführte Umgebung, keine dokumentarisches Aufführen von Straßenzügen und Ortsnamen. Diese Häuser dürfen schweben und scheinbar ortlos bleiben, oftmals solitär. Sie haben ihren Ort in der Form gefunden. Sie nimmt uns auf und beherbergt uns im Augenblick der Betrachtung, zumindest für diese Spanne des Verweilens.
Das ist es, was sich zumindest mir in diesen Schlicht-Blicken mitteilt. In diesem präzisen Sinn haben die Bilder von Hannelore Fehse tatsächlich etwas zeitloses, gerade weil sie angefüllt sind mit Zeitlichkeit. In diesem Sinn auch sind diese Bilder schlicht – schön. Sie lohnen eine eingehendere Betrachtung. Dazu sind Sie herzlich eingeladen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!


Hans-Ulrich Gehring